Die geistliche Lesung – „lectio divina“
„Jeder einzelne soll in seiner Zelle oder in ihrer Nähe bleiben, Tag und Nacht das Wort des Herrn meditierend und im Gebet wachend, es sei denn, er ist mit anderen, wohlbegründeten Tätigkeiten beschäftigt.“
(Karmel-Regel, c.7)
Die Lectio divina – geistliche Lesung – ist eine uralte monastische geistliche Übung des betenden Lesens des Wortes Gottes, der hl. Schrift. In der Karmelspiritualität ist sie zutiefst verwurzelt und Bestandteil des Alltags. Es geht darum, auf Gott zu hören, ihn kennenzulernen, immer vertrauter mit ihm zu werden, auf diese Weise den göttlichen Willen für das eigene Leben zu entdecken und sich vom Wort Gottes für den eigenen Lebensalltag und das eigene Verhalten formen zu lassen. So wird man nach und nach zu einem hörenden, auf Gottes Wort lauschenden Menschen, der sich immer tiefer in die Stille hineingezogen weiß, um dort dem lebendigen Gott zu begegnen und in seiner Gegenwart zu leben und zu verweilen. Die theologiegeschichtlich bedeutendste Anleitung zur lectio divina findet sich in der Scala claustralium des Kartäuserpriors Guigo II. (1114-1193), der diese in vier Schritte unterteilt: lectio (Lesung), meditatio (Reflexion), oratio (Gebet) und contemplatio (Betrachtung).
1. Einzelne Schritte
- Anrufung des Heiligen Geistes
- Achtsames, aufmerksames und langsames Lesen
- Meditation – Es gilt, die Bedeutung des Textes herauszufinden. Gibt es parallele Texte zu dieser Schriftstelle?
- Wissen – Gibt es Auslegungen in der Tradition und Lehre der Kirche, die zu einem besseren Verständnis anregen (Kirchenväter, Heilige, Exegeten, Lehramt, Künstler)?
- Unterscheidung der Geister– Ich stelle mein Leben in das Licht des Wortes Gottes.
- Was sagt mir der Text für mein Leben?
2. Die persönliche Antwort
- Gebet – mit dem Text oder mit einem passenden Psalm
- Kontemplation – Anrufung Gottes und Betrachtung seiner Gegenwart in der Welt
- Ich rufe mir einzelne Worte oder Sätze „ins Gedächtnis zurück“: Habe ich das Wort auch nicht vergessen? Ich wähle ein Wort aus, das mich den Tag über begleitet und das ich behalten möchte.
in Gemeinschaft:
- Teilen – Wir teilen die Erfahrungen, die wir bei der Lesung des Wortes Gottes gemacht haben miteinander. Es geht um ein staunendes Sich-Beschenken-Lassen, wie Gott im anderen wirkt, nicht um eine intellektuelle Diskussion.
- Erfüllen – Wir versuchen, nach dem Wort Gottes zu leben und es in unseren Alltag zu übersetzen